Opinion

Vertrauen statt Ideologie – sollten wir China beim Wort nehmen?

1. Die Frage der Bedrohung

Im Westen wird China weit verbreitet als Bedrohung gesehen – militärisch wie ideologisch. Auch China sieht sich selbst bedroht, hauptsächlich durch die USA. Doch schaut man genauer hin, relativiert sich vieles.

Ist China wirklich bedroht? Ein Blick auf die Landkarte zeigt: Die USA bedrohen China nicht akut. Es gibt keine Einkreisung mit Atomwaffen in unmittelbarer Nähe, keine Kuba-Analogie mit extrem kurzen Vorwarnzeiten. Die regionale US-Präsenz ist begrenzt auf rund 100.000 Mann und vor allem bündnispolitisch-symbolisch. Kein Nachbar mit Ausnahme von Nordkorea hat Atomwaffen. Taiwan wird von Peking als innere Frage verstanden – nicht als Objekt externer Expansion. Aber auch hier liegt keine Bedrohung vor, sondern eher ein Bemühen, China selbst zur friedlichen Lösung zu bewegen – fast schon eine „chinesische“ Strategie.

Sind wir selbst bedroht? Im Vergleich zu der derzeitigen Bedrohung Europas durch Russland ist diese Frage fast abwegig. Lieferung von Dual-Use-Waren auch an Russland, Einkauf von billigem Gas und Öl von dort ist noch keine Bedrohung.

Oder liegt die eigentliche Gefahr nicht vielmehr in unserem eigenen Ansatz, ökonomische und technologische Konkurrenz als Bedrohung zu sehen – statt als Motor und Normalität gemeinsamen Fortschritts? Indem wir Wettbewerb sicherheitspolitisch deuten, erzeugen wir selbst das Bedrohungsgefühl, das wir anschließend zu beantworten meinen.

2. Konkurrenz oder Bedrohung?

Wirtschaftliche und technologische Rivalität mit China wurde im Westen häufig als „gelbe Gefahr“ beschrieben. Doch ist das nicht ein Denkfehler in unserem eigenen System?

Gerade wir haben Wettbewerb zu Recht immer als Motor des Fortschritts verstanden: Konkurrenz auf Märkten, Konkurrenz in der Forschung, Konkurrenz der Ideen. Wenn wir diesen Wettbewerb nun zur Bedrohung erklären, verraten wir unser eigenes Erfolgsprinzip.

Eine kluge Politik muss unterscheiden: Konkurrenz ist kein Angriff, sondern ein Weckruf zur Erneuerung. Sie fordert uns heraus, besser zu werden – nicht, uns zu fürchten oder gar zu den Waffen zu greifen, durch absurde Zollschranken den Welthandel zu beschädigen und ähnliche Fehlhaltungen.

3. China exportiert Waren, keine Ideologie

Auch die ideologische Bedrohung, die wir aus dem Kalten Krieg mit der Sowjetunion kennen, ist im Falle Chinas nicht gegeben.

Die Sowjetunion wollte ihre Ideologie in die Welt tragen, verstand sich als Speerspitze der Weltrevolution. China dagegen versteht seinen „Kommunismus“ vor allem als innenpolitische Organisationsform – über Jahrtausende entwickelt, also historisch und geografisch begründet und gewachsen, nicht als Exportmodell für andere.

Peking sucht Handel, investiert in Infrastruktur und Technologie und schafft so auch Abhängigkeiten. Das ist klassische Machtpolitik – aber keine ideologische Mission.

4. China und die Frage des Vertrauens

China hat am 24. Februar 2023 eine Friedensinitiative zur Ukraine veröffentlicht, die völkerrechtlich einwandfrei formuliert war. Sie berief sich auf die UN-Charta, auf Souveränität und Verhandlungen – ein Text, den man ernst nehmen konnte.

Doch die Bilder, die wir heute sehen – Präsident Xi zwischen Wladimir Putin und Kim Jong Un, also Seite an Seite mit Führern, die den Krieg in Europa befeuern oder ihn unterstützen – passen schwerlich zu den Grundsätzen dieser Initiative.

Genau hier stellt sich die Frage: Gilt das Wort von 2023 noch, oder steht die neue Symbolik für etwas anderes?

5. Europa als eigenständiger Akteur

Gerade weil die USA derzeit innenpolitisch und außenpolitisch andere Wege gehen, liegt hier die besondere Chance für Europa.

Europa muss dabei auf Chinas Wort vertrauen können. Deshalb stellt sich die Frage:

  • Ihr habt 2023 glaubhaft Frieden gefordert – steht ihr heute noch dazu?

  • Ihr habt Souveränität aller Länder betont – gilt das auch, wenn ihr Seite an Seite mit denjenigen auftretet, die diesen Krieg in Europa begonnen haben und gemeinsam fortsetzen?

Es ist die Frage nach Klarheit und Verlässlichkeit. Das ist kein Zeichen von Schwäche Europas, sondern von Selbstbewusstsein: Vertrauen statt Ideologie, Deeskalation statt martialischer Rhetorik.

Europa zeigt damit sein eigenes Profil – nicht als Nachahmer der USA, sondern als eigenständiger Akteur, der die Stimme für Frieden und Völkerrecht erhebt.

6. Fazit

China ist nicht die Sowjetunion. Sein Selbstverständnis wurzelt nicht in einer Ideologie des 20. Jahrhunderts, sondern in einer großen alten Kultur, die Jahrtausende zurückreicht – zu Denkern, die lange vor Christus über Ordnung, Harmonie und das rechte Maß nachgedacht haben.

Darum gibt es keine weltweite Mission, anderen Gesellschaften ein chinesisches Modell aufzuzwingen. Es gibt auch keine akute militärische Bedrohung. Was wir erleben, ist wirtschaftliche und technologische Konkurrenz – und die bedeutet für uns Ansporn und Herausforderung, nicht Gefahr. Zugleich zeigt sich in jüngsten Auftritten eine Ambivalenz, die Fragen aufwirft.

Gerade deshalb stellt sich heute die Frage: Steht China zu seiner Friedensinitiative von 2023, oder was sonst bedeutet die neue Symbolik?

Man muss diese Frage offen stellen – nicht martialisch, sondern nüchtern und direkt. Nur so entsteht Vertrauen, und nur auf der Grundlage von Vertrauen lässt sich eine verlässliche Politik gestalten – Vertrauen statt Ideologie.